GRASWURZELRUNDSCHAU
GORBATSCHOW
"Gorbatschow fühlt sich durch den Westen hintergangen"
10. Februar 2020, Artikel aus der Süddeutschen Zeitung
Am 10. Februar 1990 erteilte Michail Gorbatschow sein grundsätzliches Einverständnis zur deutschen Einheit.
Warum der damalige sowjetische Staatschef mit dieser historischen Entscheidung nicht glücklich wurde, erklärt sein Biograf William Taubman.
Interview von Paul Katzenberger, Moskau

Es ist ein Datum, das in der historischen Betrachtung der deutschen Einheit kaum Beachtung findet: Am 10. Februar 1990 erklärte der damalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow seine grundsätzliche Bereitschaft, die deutsche Wiedervereinigung zu akzeptieren. Bei einer Pressekonferenz in Moskau verkündete Bundeskanzler Helmut Kohl damals: "Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein, dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will."
William Taubman, der US-amerikanische Pulitzer-Preisträger und Autor der Biografie "Gorbatschow: Der Mann und seine Zeit", äußert sich im Interview zu Gorbatschows Großzügigkeit - aber auch zu den Fehlern, die er machte.
SZ: Wenn man berücksichtigt, dass es vier Jahrzehnte lang nahezu unmöglich erschien, dass Deutschland eines Tages wiedervereinigt werden würde, dann kam die deutsche Einheit nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ein knappes Jahr später ja unglaublich schnell. Warum stimmte Gorbatschow bereits nach drei Monaten dem Zusammenschluss von Bundesrepublik und DDR grundsätzlich zu?
William Taubman: Die sowjetischen Staatsführer, die die Wiedervereinigung Deutschlands 40 Jahre lang blockierten, waren Kommunisten mit einem leninistisch-stalinistischen Feinddenken. Die DDR war der kommunistischen Welt zugeschlagen worden, und warum sollte diese den deutschen Arbeiter- und Bauernstaat an das gegnerische Lager herausgeben?
Im Gegensatz dazu war Gorbatschow 1989 bereits von einem Reformkommunisten quasi zu einem Sozialdemokraten mutiert. Dem ihm nahestehenden Berater Andrei Gratschew hatte er anvertraut, dass es sein geheimer Traum gewesen sei, "eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, dass die Berliner Mauer von selbst gefallen ist".
Aber als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl Ende November 1989 mit seinem Zehn-Punkte-Programm zur Lösung der deutschen Frage vorpreschte, fühlte sich Gorbatschow überrumpelt und war empört.
Ja, weil er zunächst andere Pläne hatte. Seine Hoffnung bestand darin, dass die DDR und die anderen osteuropäischen Verbündeten Moskaus dem Reformpfad folgen würden, den er mit der Sowjetunion vorausgegangen war. Für absehbare Zeit sollten die zwei Teile Europas aus seiner Sicht getrennt bleiben - mit eigenen politischen und ökonomischen Systemen sowie einem jeweils eigenen Verteidigungsbündnis.
Doch er setzte darauf, dass die Gesellschaften der zwei Lager im Laufe der Zeit einander zunehmend ähnlicher und dass die Nato und der Warschauer Pakt ihren militärischen Charakter teilweise zugunsten einer politischen Agenda verlieren würden, bis man beide Bündnisse durch eine gemeinsame europaweite Sicherheitsarchitektur ersetzen könnte, basierend auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Eine schnelle Wiedervereinigung Deutschlands hätte diesem langsamen aber umfassenden Annäherungsprozess im Wege gestanden.
Warum änderte Gorbatschow dann seine Meinung in so kurzer Zeit?
Als er sah, wie schnell die DDR in ihren bisherigen Strukturen zerfiel, begriff er, dass es für Moskau besser war, die ohnehin unausweichliche Wiedervereinigung Deutschlands zu akzeptieren. Natürlich war das kein ganz uneigennütziges Kalkül: Er rechnete sich dabei aus, dass die Deutschen der Sowjetunion dankbar sein würden, und das wiedervereinigte Deutschland als größtes und wirtschaftlich stärkstes Land Westeuropas ein langjähriger Partner Moskaus werden würde.
War Gorbatschow nicht sehr naiv, als er glaubte, eine neue Weltordnung auf Augenhöhe mit westlichen Partnern aufbauen zu können, die davon überzeugt waren, dass sie den Kalten Krieg gewonnen hatten?
Ja, Gorbatschow war in seinem Bemühen, die Sache so anzugehen, ohne jeden Zweifel zu gutgläubig. Aber ich möchte zu bedenken geben, dass es im Westen damals Signale gab, die er als Bestätigung seiner Position interpretieren konnte. Bei einer Rede in Tutzing am 31. Januar 1990 drängte zum Beispiel der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Nato dazu, folgende Erklärung abzugeben: "Was auch immer innerhalb des Warschauer Paktes geschieht, es wird keine Ostausweitung der Nato geben, das heißt: näher an die Grenzen der Sowjetunion heran."
Leserbrief
Sehr geehrte Damen und Herren,
hier ein Leserbrief zum Artikel: ,, Auf der Seite des Aggressors ''
von Denis Trubetskoy in der Publik- Forum Ausgabe Nr.4, 24. Feb.2023
Herr Trubetskoy beanstandet die mangelnde Beschäftigung von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht mit der Vorgeschichte des Ukraine Krieges und wirft ihnen vor mit Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand sich falschen Illusionen hinzugeben. Ich habe am 25. Februar 2023 an der Kundgebung am Brandenburger Tor teilgenommen und muss ihm entschieden widersprechen.
Bei Herrn Trubetskoy beginnt die Vorgeschichte erst im Februar 2015. Die Zeit zwischen 1989 / 1990 und 2015 wird völlig ausgeblendet und ignoriert. Die Entscheidende Phase der Vorgeschichte war die Ära Gorbatschow. Diese Phase war ein Thema auf der Kundgebung in Berlin.
Wer war Gorbatschow?
Gorbatschow war die Zeitenwende zum Frieden. Seine Leistungen und Verdienste stehen in den Geschichtsbüchern, man muss sie nur lesen. Auf meinen selbstgebastelten Plakaten habe ich versucht auf die unglaublichen Leistungen dieses Mannes aufmerksam zu machen.
Wir haben jetzt Krieg in Europa! Wie konnte das geschehen?
In einem Interview 2016 mit Franz Alt antwortete Gorbatschow auf die Frage:
,,Nach dem NATO-Gipfel in Warschau im Juli 2016 sagten Sie: >>Dieser Gipfel war beinahe eine Kriegserklärung an Russland.<< Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?''
Gorbatschow: ,,Sie werden mir zustimmen, dass die Spannungen in der Welt seit zweieinhalb Jahrzehnten jetzt den Höchststand erreicht haben. Statt nach einem Ausweg aus der bedrohlichen Lage zu suchen, erging sich der Juli-NATO-Gipfel in kriegerischer Rhetorik und steigerte das feindselige Klima noch mehr. Und wäre es dabei nur geblieben! Aber nein, es wurde beschlossen, Truppen und militärisches Gerät näher an Russlands Grenzen heranzubringen. Im Volksmund heißt das: Öl ins Feuer gießen. Und in der Sprache der Politik kann man ein solches handeln nicht anders als Provokation bezeichnen. Die NATO-Führung provoziert die eigenen Mitglieder, indem sie in ihnen den militanten Geist anstachelt und Säbelrasseln schmackhaft macht. Sie provoziert Russland, denn es ist offenkundig, dass Russland auf solche Handlungen mit einer harten Antwort reagieren muss.''
Noch einen mutigen Mann habe ich auf der Kundgebung zu Wort kommen lassen.
Papst Franziskus der sagte: ,, das Bellen der NATO an Russlands Tür ….....''
Wer bellt will keinen Frieden! Die ganze Welt und vor allem Deutschland haben Gorbatschow ungeheuer viel zu verdanken. Er hat den Grundstein für das gemeinsame Haus Europa und eine friedlichere Welt gelegt. In der westlichen ,,Wertegemeinschaft'' gibt es aber Kräfte die kein Interesse an einem geeinten, starken und friedlichen Europa (von Lissabon bis Wladiwostok) haben. Wir müssen hier von einem friedens- und sicherheitspolitischen Totalversagen des Westens sprechen. Die NATO, die EU und Deutschland haben Gorbatschow verraten. Was er vorhergesagt hat (: ,,....dass Russland auf solche Handlungen mit harten Antworten reagieren muss.'') ist jetzt eingetreten. Alle die es haben kommen sehen wurden verspottet und diffamiert. Genauso werden heute alle diejenigen verspottet und diffamiert die auf die Strasse gehen, Friedensverhandlungen fordern und verstanden haben: Dieser Krieg hätte verhindert werden können. Sie sind auf der Seite Gorbatschows und nicht auf der Seite des Aggressors.
06.03.2023
Vielen Dank, mit freundlichen Grüßen
Werner Link
In einem Interview 2016 mit Franz Alt antwortete Gorbatschow auf die Frage:
,,Nach dem NATO-Gipfel in Warschau im Juli 2016 sagten Sie:
>>Dieser Gipfel war beinahe eine Kriegserklärung an Russland.<<
Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?''
Gorbatschow:
,,Sie werden mir zustimmen, dass die Spannungen in der Welt seit zweieinhalb Jahrzehnten jetzt den Höchststand erreicht haben. Statt nach einem Ausweg aus der bedrohlichen Lage zu suchen, erging sich der Juli-NATO-Gipfel in kriegerischer Rhetorik und steigerte das feindselige Klima noch mehr. Und wäre es dabei nur geblieben! Aber nein, es wurde beschlossen, Truppen und militärisches Gerät näher an Russlands Grenzen heranzubringen. Im Volksmund heißt das: Öl ins Feuer gießen. Und in der Sprache der Politik kann man ein solches handeln nicht anders als Provokation bezeichnen. Die NATO-Führung provoziert die eigenen Mitglieder, indem sie in ihnen den militanten Geist anstachelt und Säbelrasseln schmackhaft macht. Sie provoziert Russland, denn es ist offenkundig, dass Russland auf solche Handlungen mit einer harten Antwort reagieren muss.''